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Radouan Zeghidour – No Future Jellyfish

22 September – 7 October 2017

curated and documented by Philipp Friedrich

Was Radouan Zeghidour in Algerien in Erfahrung brachte

Als Radouan 2017 von seiner Heimat und Geburtsstadt Paris nach Algerien reiste, wusste er schon einige Dinge über das Land, doch genau wie auch heute, nicht alle.

Er konnte bei einem Bekannten unterkommen. Da in der Wohnung ein Gasleck war, war die Angst oft groß. Aber er lernte, ein Gasleck ist Vitamin. Alles was einen nicht umbringt und einen deswegen anscheinend stärker macht, ist Vitamin. Schneidet sich der eine beim Kochen in den Finger, so sagt der andere: Vitamin.

Auch die Sitzgurte aus Autos zu entfernen ist Vitamin, und ein jeder, der was auf sich hält, macht dies auch. Zumindest die Jungen. Es gibt ein ausländisches Sprichwort, welches sagt: In Algerien in ein Auto zu steigen, ist mit Suizid gleichzusetzen. (Die Wohnung wurde dann aber doch recht schnell vom Stuhl zum Sessel.) Auch der Staat beteiligt sich: Anstatt Impfgesetze festzulegen, werden massenhaft alte Batterien ins Meer geschmissen. Vitamine. Kühlschränke werden in der Regel über Nacht ausgeschaltet, deshalb gibt es auch recht viele Lebensmittelvergiftungen. Vitamin.

Gefahr scheint omnipresänt zu sein und wird oft heraufbeschworen, zumindest scheint es so. Eigentlich besteht Algerien hauptsächlich aus drei Sachen: Gefahren und Quallen. Und noch was drittes, zu dem wir später kommen.

So kann man auch in den Gebirgen der Berber sehen wie ein Truthahn an einer Qualle, durch die hydraulischen Staudämme den Weg gefunden, rumpickt. Es gibt zwei Arten von Quallen. Die einen sind Plastiktüten, die überall rumliegen. Meistens sind sie transparent und schwimmen im Meer und schauen in der Situation tatsächlich wie die andere Quallenart aus. Daher wohl der Begriff, der aber mittlerweile auch für weggeworfene Plastiktüten an allen anderen Orten Verwendung findet.

Radouan hat sich etwas an dieser Ubiquität von Quallen geärgert, aber nicht mehr, wie wenn er im warmen Tagen im Bett liegt und einen Schluck aus einer kalten Bierflasche zu versuchen nimmt, ohne dass diese ihn am Oberkörper berührt. Jeder hat seine Grenzen - Radouan würde zum Beispiel nie fertig geriebenen Parmesan kaufen, aber ansonsten kann er viel einstecken und trotzdem locker bleiben, wie er in Algerien erneut gemerkt hat. Nun aber zur dritten Sache: Ruinen.

(Eigentlich gibt es noch eine vierte: Das Gebiet Algeriens ist nur zu 12% besiedelt, was damit zusammen hängt, dass Algerien die größten Ergs hat. Ein Erg ist einerseits ein Wort das wenige kennen aber auch arabisch für Dünenmeer. Häufig wird Erg mit Wüste gleichgesetzt aber nur 20% aller Wüsten sind Ergs. Im Internet gibts da noch mehr Infos, zum Beispiel dass durch den feinen Sand Wasser in Ergs gespeichert wird und deswegen an deren Rändern oft Brunnen sind).

Zurück zu den Ruinen.

Algerien wurde erst von den Römern invadiert und somit wurde das damalige Numidian quasi zur römischen Provinz Africa-Nova. Hussein Dey (eine Bezeichnung für einen Kommandanten der osmanischen Janitscharen) ärgerte sich sehr über unbezahlte Schulden Frankreichs und vor allem über die übertrieben un-légere Art des französischen Konsuls Pierre Deval. Es blieb ihm also nichts übrig außer diesen mit einem Fliegenwedel zu schlagen. Das war Anlass genug für eine Invasion Frankreichs.

Beides hat zu architektonischen Konstrukten geführt, von denen viele noch als Ruinen Bestand haben.

Radouan, des ausgeprägten Flanierens sehr mächtig, hat es als sehr spannend empfunden verschiede Ruinen zu entdecken und sich mit diesen, und dem Begriff der Ruine an sich, auseinanderzusetzen. Neben Hunden, die sich, um zu überleben, zu Meuten zusammenschließen, lief er herum und beschreibt, was er sah als anarchistische Ziegel-Strukturen, die die Landschaft dominieren. Die Natur hat sich immer mehr hinter diesen roten Ruinen zu verstecken. Das wenige, was sich nicht gut genug zu verstecken mag, wird verbrannt, um billige Kohle zu produzieren. Und so hat Radouan tausende Waldbrände gesehen, die oft gesamte Regionen erleuchten und diese dann mit schwarzen Flocken besträuseln. “Zukunft - du interessierst mich nicht.” denkt Radouan, sei der Gedanke.

Er erzählt, dass die Einwohner dieses mit tausenden Peitschenhieben gepeinigten Landes einen speziellen Humor entwickelt haben, der vieles einfacher macht. “Vitamin”?

Aber darunter ist es düster, und er weiß es, wie es jeder weiß. Ruinen von Lebendigkeiten und Kulturen. Oft welche, die noch vor drei Generationen glänzten, und das über hunderte und sogar tausende Jahre. Schichten über Schichten über Geschichten von Hinweisen auf Riten, Überzeugungen und Traditionen.

Zum Abschluss noch die Geschichte der Stadt Numantia, die Hauptstadt der Keltiberer:

Während der iberischen Kriege (ca 140 v. Chr.) war die Stadt eine der resistentesten Widerstände gegen die römischen Angriffe. Mehrere versuchte Attacken scheiterten über circa zwanzig Jahre. Unter anderem bewarfen die Keltiberer die Elefanten im Belagerungslager mit Steinen und diese zerstörten das Lager. Erst der jüngere Scipio hatte “Erfolg”, in dem er die Stadt einkesselte und eine Hungersnot auslöste. Die Einwohner entzündeten, im Angesicht der unausweichlichen Niederlage, ihre eigene Stadt, um immerhin frei zu sterben.

Im Spanischen gibt es, aus obiger Geschichte resultierend, das Wort numantino, was so viel bedeutet wie heldenhaft, aber im weiteren Sinne hartnäckigster Widerstand und die Einstellung, sich und alles eher zu zerstören als sich zu ergeben. Und vielleicht schließt sich hier der Kreis, und Vitamine sind der letzte “Angriff” gegen das Verschwinden von Kultur und Identität.

Philipp Friedrich (mit Input von Radouan via arabisches Telefon)

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